»Chef, sie sind zu schnell!« Ein BlockG20 Erlebnisbericht aus dem roten Finger

block g20 schauer

Freitag, 7 Uhr morgens, U-Bahnhaltestelle Berliner Tor: Circa 250 Aktivist_innen haben sich in aller Frühe den Wecker gestellt um rechtzeitig hier zu sein. Das Ziel: Mit möglichst Vielen auf eine der Protokoll-Strecken in der 38 km2 großen Verbotszone zu kommen, auf denen die Delegationen sowie Erdogan, Trump und Co. zu den Messehallen gebracht werden, und diese zu blockieren. Diese sollen natürlich unbedingt frei bleiben und es wäre eine herbe Niederlage für Polizei und Politik wenn uns dies gelänge. Herausforderung angenommen!

Erste zaghafte, noch müde Bewegung kommt in unsere Gruppe als wir die Straßenseite wechseln um uns auf den angemeldeten Kundgebungsort zu begeben. Kaum stehen wir dort werden wir auch schon von einer Polizeieinheit eingekesselt. Das Szenario wirkt bedrohlich, uns umringen Einheiten, die mit angezogenen Helmen auf ihren Einsatz warten.
Ein Polizist funkt, ich kann ihn belauschen: Offensichtlich wird er gefragt ob sich unter uns auch schwarz gekleidete Menschen befänden, er verneint dies und sagt er sehe lediglich eine Person mit einer Schutzfolie um den Hals. Die Person bin ich und des lieben (vorläufigen) Frieden willens packe ich die mit einen Gummizug präparierte Plastikfolie, die ich dabei habe um meine Augen vor Pfefferspray zu schützen, in den Rucksack. Als hätten sie dieses Friedensangebot angenommen, wird kurz darauf der Kessel aufgelöst, die Polizist_innen steigen in ihre Autos und fahren weg. Vielleicht sahen wir einfach nicht gefährlich genug aus mit unseren bunten Klamotten. Oder, was wahrscheinlicher ist, die Polizist_innen wurden abgezogen, um zu schwarz gekleideten Aktivist_innen zu eilen, die wie ich später erfahre, zu dem Zeitpunkt durch Altona ziehen.
Im Nachhinein frage ich mich, ob es die Einheiten sind, die später für elf Schwerverletzte, zahlreiche Knochenbrüche und Platzwunden verantwortlich sind. Laut Aussagen der Opfer flohen sie in Panik vor den Beamt_innen an ein Metallgitter auf einer Mauer, welches dann von den Polizist_innen absichtlich zum Einsturz gebracht wurde, worauf hin sie 4 Meter in die Tiefe stürzten. (1)*

Das Timing ist perfekt, es geht ruckartig los. Der ruhige und etwas unentschlossen Eindruck, den wir bis dahin gemacht haben verändert sich rapide, auch wenn die Menge noch etwas überrascht ist über den plötzlichen Aufbruch in schnellem Schritt. Nach wenigen Minuten stoßen aus einem Park kommend circa 150, überwiegend in roten Maleranzügen gekleidete Menschen zu uns und es geht zügig weiter. Sie reihen sich ein, es werden rote Rauchfackeln gezündet, aus dessen Nebel wir als entschlossene Masse auftauchen. Das Bild scheint nicht nur aus dem Inneren spektakulär. Die schnell herbeigeeilte Presse versucht Schritt zu halten und gleichzeitig hektisch Bilder zu schießen.
Immer wieder schreien wir: »Aufschließen!«, »Ein bisschen schneller!« und »Keine Lücken lassen!«, um die Gruppe beisammen zu halten und Langsamere mitzunehmen. Schnell wird auch denen bewusst, die vielleicht mit einem langsameren Start in die Aktion gerechnet haben, dass dies alles andere als eine Latschdemo wird.

Auf zur Protokollstrecke

Wir schlagen einen Bogen und befinden uns auf einer Brücke parallel zum U-Bahnhof an dem wir uns trafen, laufen in Richtung Außenalster. Auf zur Protokollstrecke!
Inzwischen ist auch die Polizei aufgewacht und nähert sich uns hektisch mit mehreren Mannschaftswagen. Ab diesem Zeitpunkt wird es richtig anstrengend, denn jetzt reicht kein schneller Schritt mehr: Alle 400 Aktivist_innen fangen ab jetzt an zu laufen und hören größtenteils auch die nächsten 10-15 Minuten nicht mehr damit auf. Und es klappt! Einzelne Polizist_innen springen aus ihren Autos, um sich uns in den Weg zu werfen, aber es bringt ihnen nichts, wir sind zu schnell, umfließen sie und laufen einfach an ihnen vorbei. Also stürzen sie sich wieder in ihre Autos, während wir auf den rechten zwei Fahrbahnen einer vierspurigen Straße Richtung Ziel sprinten und ins Schwitzen kommen.
Das Gebiet scheint weiträumig abgesperrt zu sein, denn es ist fast menschenleer. Es gibt so gut wie keinen Verkehr, außer den Polizeieinheiten, die jetzt damit beginnen auf der Gegenfahrbahn an uns vorbei zu rasen. Die naheliegende Idee, dass sich unsere Gruppe alle vier Spuren nimmt, um die Polizei nicht vor uns kommen zu lassen, wird von wenigen Mutigen angegangen. Sie versuchen den an uns vorbei rasenden Autos den Weg abzuschneiden, was sich sehr schnell als höchst gefährlich herausstellt. Die Szene bestätigt das Bild, das die Polizei während den gesamten Protesttagen abgibt: Statt abzubremsen oder im Zweifel anzuhalten, halten die Fahrer_innen einfach auf die Aktivist_innen drauf zu: Hoch aggressiv und eskalativ, unglaublich gewalttätig und konstant überfordert.
Sie nimmt schwere Verletzungen oder gar Tote in Kauf: Viele Aktivist_innen können gerade noch so wegspringen, andere werden im letzten Moment von Menschen aus der Gruppe zurückgerissen. Ich rufe noch: »Kommt sofort runter von der Straße, die überfahren euch sonst!« als es passiert: Eine junge Frau kann nicht mehr rechtzeitig wegspringen und wird von der Seite eines Einsatzwagens erfasst. Sie stürzt, bleibt regungslos in der Mitte der Fahrspuren am Boden liegen. Sofort rennen viele zur Unfallstelle, knien neben ihr, leisten Erste Hilfe. Andere versuchen vergeblich mit erhobenen Händen und lauten Warnrufen den nächsten heranrasenden Einsatzwagen aufzuhalten. Ein Pulk von Menschen stellt sich ihm entgegen, es scheint als wollten sie es mit bloßen Händen aufhalten, die sie dem Wagen entgegenstrecken, um ihn zum Anhalten zu zwingen. Der Fahrer hält auch auf sie weiter zu. Ich blicke in geschockte, fassungslose Gesichter.

Im Laufen überlege ich kurz, ob ich auch stehen bleibe, sehe aber dass bereits viele bei ihr sind und entscheide mich dafür weiter zu laufen. Es bringt ihr nichts, wenn ich jetzt stehen bleibe. Später erfahre ich von einer Freundin, die direkt neben ihr war und bei ihr blieb, dass der Polizeiwagen, der sie anfuhr einfach weiter raste! Der nachfolgende Polizeiwagen blieb stehen. Aber nicht um der Verletzten zu helfen, sondern um die Ersthelfer_innen mit Pfefferspray anzugreifen! Ich erfahre im Nachhinein: Die Aktivistin wurde per Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Ich hoffe sehr, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht und sie keine bleibenden Schäden davon trägt.

Kurz nach dieser Situation gelingt es der Polizei den hinteren Teil unserer Gruppe halbwegs zu stoppen und mit Gummiknüppeln und Pfefferspray anzugreifen und eine Kette zwischen der ersten und der zweiten Gruppe zu ziehen. Einige bleiben stehen, um der Verletzten und die von der Polizei angegriffenen Ersthelfer_innen zu unterstützen. Andere biegen in Kleingruppen in Nebenstraßen ab, um die Polizeikette zu umgehen. Weitere rennen an den prügelnden Polizist_innen vorbei und folgen mir und der vorderen Gruppe.

Immer noch im Laufschritt geht es weiter und kurz nachdem die Spitze unserer Gruppe rechts in eine kleinere Straße abbiegt, gelingt es der Polizei mit einer Hand voll Beamt_innen abermals vor uns zu kommen.
Meine Bezugsgruppe habe ich längst verloren, die einzige noch verbliebene Person aus meiner Gruppe hat es gerade noch so in die Straße geschafft.
So stehe ich nun vor eine den Knüppel schwingenden Polizistin und denke an meine Erfahrung im Polizeiketten »durchfließen« und das, was man in den Blockadetrainings lernt. Erstens: Sie sind nicht magnetisch! Zweitens: Sie können maximal eine Person festhalten!
Verletzen können sie leider wesentlich mehr. Also Mut zusammengenommen, links angetäuscht, rechts an ihr vorbei. Sie erwischt mit ihrem Knüppel meinen linken Ellenbogen. Egal, ich war an ihr vorbei und sie kann natürlich nicht hinter mir her, da sie alle Nachfolgenden (leider erfolgreich) davon abhalten will, in die Straße zu kommen.

Immer noch laufen wir und ich, der ich vorher die Leute zur Eile trieb, erwischte mich dabei wie ich »Ein bisschen langsamer!« schrie. Ich bin zwar sportlich, aber trotzdem echt am Ende. Zum Glück waren keine weiteren Polizist_innen in Sicht und wenig später sah ich mit ungläubigen Augen die Außenalster. Die wenigen Polizist_innen, die die Protokollstrecke vom Wasser aus sicherten, sehen uns überrascht an, machen aber keine Anstalten uns aufzuhalten. Mit circa 100 Leuten haben wir es geschafft!
Nach kurzer Orientierung gehen wir an unseren endgültigen Blockadepunkt vor der Brücke Schwanenwick/Ecke Hartwicusstraße.

Voller ungläubige Freude und Erschöpfung stellen wir fest: Wir haben sie einfach überrannt!

Nach dem Sprint am frühen Morgen mit einer Aktions-Beschleunigung von 0 auf 100 in wenigen Minuten, war eine Sitzblockade genau das Richtige. Nach einer knappen halben Stunde stoßen, unter große Jubel, noch weitere 50 Aktivist_innen zu uns, die es ebenfalls geschafft haben, die Polizei zu umgehen.
Schnell waren Presse und parlamentarische Beobachter_innen vor Ort. Unser Sprecher gab am laufenden Band „live aus der Blockade“ Interviews. N24 sendete etwa eine Stunde lang live von unserer Aktion (2)*, auch das und ZDF-Morgenmagazin berichtete immer wieder live von unserer Blockade.
Natürlich verstärkt auch die Polizei ihre Reihen. Mehrere offizielle Autos und Busse mit G20 Delegierten müssen vor unserer Blockade drehen. Die wenigen Jogger_innen und Radfahrer_innen wundern sich, zücken ihre Smartphones oder grüßen uns erfreut, ein Passant zeigt mit seiner Zahnbürste in der Hand seine Solidarität.
Außerdem erfahren wir: Wir sind nicht allein. Viele Leute aus der hinteren Gruppe haben sich durch Polizeiketten hindurch und um Absperrungen herumgeschlichen, sich wieder gefunden und sich eine Kreuzung weiter auf die Straße gesetzt.

Die Stimmung in der Blockade ist dauerhaft gut und auch der Wasserwerfer, der nach knapp zwei Stunden aufzieht, tut dem keinen Abbruch: Erstmal Regenjacke anziehen, Regenschirm raus und die Wassermassen, die über uns hineinbrachen aussitzen.
Nachdem der erste Wasserwerfer leer ist (der Strahl war zugegebenermaßen nicht übermäßig hart eingestellt), sind zwar alle klatschnass, aber bei bester Laune.
Es wäre natürlich nicht der G20 Gipfel, wenn die Polizei nicht sofort einen zweiten Wasserwerfer am Start gehabt hat. Um ein Umparken zu vermeiden wird der erste mit dem zweiten verbunden und es geht wieder los. Unbeeindruckt, aus lauter Kehle und im Strahl des Wasserwerfers singen die Blockadeteilnehmer_innen: »Das ist das Hamburger Wetter«. Auch dem zweiten Wasserwerfer geht das Wasser aus und wir sitzen immer noch!
Ein dritter steht schon bereit, aber wir zeigten uns davon bisher scheinbar so unbeeindruckt, dass die Polizei beschloss, Menschen einzeln aus der Blockade zu pflücken. Anfangs werden die Aktivist_innen noch über den Boden weggeschliffen, kurz danach (es war vielleicht einfach zu viel Presse vor Ort) dann mit Schmerzgriffen abgeführt.

Genützt hat es erstmal nichts: Donald Trump nahm aus Sicherheitsgründen nicht die nach 2,5 Stunden Blockade für ihn frei gemachte Strecke sondern einen Umweg. Und seine Frau hat zu dem Zeitpunkt bereits die Hafenrundfahrt verpasst.(3)* Und auch Erfolgsmeldungen aus anderen Fingern gibt es: Unter anderem die französische Delegation hängt fest und Schäuble hat wegen den zahlreichen Blockaden in der Stadt einen Besuch absagen müssen.

Die zwei Menschen, die während der gesamten Zeit die Megafon-Durchsagen und Interviews gemacht haben, wurden nach Auflösung der Blockade vor laufenden Kameras von der Polizei festgenommen, jedoch nach Personalienfeststellung wieder frei gelassen.
Circa eine Stunde trocknen wir uns und unsere durchnässten Klamotten im Kessel, der sich direkt neben der Protokoll-Strecke und der ehemaligen Blockade befindet, bis die Polizei uns ohne Personalien aufzunehmen gehen lässt.
Im Anschluss demonstrieren wir gemeinsam zum Auftaktkundgebungsort der Demo von „Jugend gegen G20“, die mit ihrem Start extra auf uns warten und uns herzlich mit lauten „A Anti Anticapitalista“-Sprechchören empfängt.
Kurz bevor wir die Kundgebung erreichen, wiederholen sich leider die Bilder vom Morgen: Plötzlich fährt eine G20 Kolonne mit schwarzen Limousinen und Polizeieskorte direkt an der Kundgebung vorbei. Einige Schüler_innen versuchen sich dieser in den Weg zu stellen. Genau wie die Polizei bei uns, halten die Fahrer_innen unbeirrt auf die Jugendlichen zu, die sich glücklicherweise in letzter Sekunde retten können.

Trotz dem unverantwortlichem und unverhältnismäßigen Verhalten der Polizei bleibt die Erfahrung zurück, dass mit Mut und Entschlossenheit, gründlicher Vorbereitung und vor allem Schnelligkeit, selbst die größte und skrupelloseste Polizeiarmee überrannt und brüskiert werden kann. Wir waren dort, wo wir nicht sein sollten und haben uns mit dem Mut der Vielen dem Spektakel der Macht entgegengestellt!

(1)* http://lowerclassmag.com/…/…/versuchter-totschlag-beim-g20/…
(2)* https://www.youtube.com/watch?v=IjC0G3XJbaA
(3)* http://www.spiegel.de/…/g20-melania-trump-fehlt-bei-der-haf…

Berichte und Videos vom roten Finger:

https://www.youtube.com/watch?v=z91cTilMGU8
https://www.zdf.de/…/zdf-mittagsm…/170707-arend-mim-104.html
https://youtu.be/rttV9JGd8ik
http://www.beobachternews.de/…/die-inszenierung-der-macht-…/

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