Düsseldorfer Antifaschist*innen fordern umfassende Aufklärung des „Wehrhahn“-Komplexes auch im Falle eines Freispruchs
Ralf S. wurde Mitte Mai – vier Monate nach Beginn des Strafprozesses, in dem er u.a des versuchten Mordes an 12 Menschen angeklagt ist – auf freien Fuß gesetzt. Die 1. Große Strafkammer am Landgericht Düsseldorf, die den Prozess seit dem 25. Januar 2018 führt, kann nach 24 Verhandlungstagen keinen dringenden Tatverdacht mehr erkennen. Das deutet auf einen baldigen Freispruch hin. 18 Jahre nach dem Wehrhahn-Anschlag vom 27. Juli 2000 wird es damit keine juristische Aufklärung geben. Kein Täter wird zur Verantwortung gezogen werden.
Es werden zugleich viele Fragen offen bleiben – eine Tatsache, mit der die Opfer des Anschlages nun zurück bleiben müssen.
Wir sind weiterhin von einer Täterschaft von Ralf S. überzeugt. Im Laufe des Prozesses sind erdrückende Indizien vorgetragen und herausgearbeitet worden, die deutlich machen, wie wenig denkbar der Wehrhahn-Anschlag ist, ohne dass der Angeklagte eine Rolle darin gespielt haben wird. Bereits in den 1990er Jahren war S. als Neonazi bekannt. Zugleich ist die Motivlage für den rassistischen Anschlag vom Düsseldorfer S-Bahnhof „Wehrhahn“ heute eindeutiger als je zuvor. Sie ist deckungsgleich mit dem rassistischen und nazistischen Weltbild des Angeklagten, wie es im Prozess zuletzt in aller Deutlichkeit klar wurde.
Es geht uns nicht um den Ruf nach Verurteilung, sondern nach lückenloser, vollständiger Aufklärung des Falles. Diese konnte der Prozess, trotz aller Versprechungen der Staatsanwaltschaft, bislang nicht erfüllen. Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund und zu rechtem Terror und rechter Gewalt in NRW, der dem Bombenattentat in seinen letzten Sitzungen im Februar 2017 leider nur wenige Stunden widmete, förderte keine erhellenden Informationen zu Tage.
Wir haben Fragen nach Verantwortlichkeiten und Gründen für das völlige Scheitern der Ermittlungen. Dabei fragen wir vor allem nach der Rolle von Polizei, Staatsschutz und Verfassungsschutz. Im Rahmen des Prozesses zeichneten sich vor allem die (Staatsschutz-)Beamt*innen der ersten Ermittlungskommission, der damaligen EK „Acker“, durch Desinteresse, mangelndes Erinnerungsvermögen und mitunter geringe Bereitschaft, etwas zur Aufklärung beizutragen, aus.
Nach wie vor ist zum Beispiel unklar, warum es bei dem Ex-Soldaten mit Militaria-Handel zunächst nur eine oberflächliche erste Hausdurchsuchung gab. Es ist außerdem unverständlich, dass die wiederholte Aussage einer Sprachlehrerin aus der dem Militaria-Laden gegenüberliegenden Sprachschul-Filiale, nicht dazu führte, dass die EK „Acker“ Ralf S. als möglichen Täter mit einem fremdenfeindlichen Motiv ernst genommen hat. Die Lehrerin hatte schon damals geschildert, wie Monate vor dem Anschlag zwei Personen aus dem Umfeld und vermutlich auf Initiative von Ralf S., im Neonazi-Outfit und mit Hunden, Schüler*innen der Sprachschule angepöbelt und bedroht haben. Diese Aussagen der Sprachlehrerin haben die Polizei-Ermittler*innen damals nicht angemessen berücksichtigt. Warum?
Auch die Rolle der Geheimdienste muss aufgeklärt werden. So führte beispielsweise der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz den ehemaligen MAD-V-Mann André M. noch Wochen vor dem Anschlag als seinen V-Mann in der Düsseldorfer Neonazi-Szene, will ihn aber kurz zuvor abgeschaltet haben. Dennoch gab der VS André M. ein Alibi für den Tatzeitraum und hielt den Ermittlungsbehörden das Wissen um die Existenz eines V-Manns im Umfeld des Tatverdächtigen Ralf S. bis mindestens 2004 vor.
Obwohl also ein V-Mann als Mitarbeiter für Ralf S. tätig war, hat der VS weder im Vorfeld, noch unmittelbar nach der Tat, noch während Gerichtsverfahrens bislang etwas zur Aufklärung des Prozesses beigetragen. Auch die polizeilichen Ermittler*innen, insbesondere der Staatsschutz, schweigen sich hierzu aus. Es ist nach wie vor unklar, ob und ggf. was die Düsseldorfer Polizei in diese Richtung ermittelt hat, nachdem ihr bekannt geworden sein muss, dass es die V-Person André M. im Umfeld des Beschuldigten gegeben hatte.
Warum war das VS-Wissen im Prozess bislang noch nicht konkret Thema? Wo bleiben die Nachfragen?
Ohne beide Komplexe gleichsetzen zu wollen oder die Taten des NSU verharmlosen zu wollen, zeigt sich im Auftreten und in der Arbeitsweise des Verfassungsschutzes hier wie auch im Kontext „Wehrhahn“-Anschlag die gleiche Logik. Wenn der Verfassungsschutz der Aufklärung von Straftaten mit extrem rechten Hintergrund mehr schadet als nützt, seine Rolle in dem Ganzen intransparent bleibt, dann muss er radikal infrage gestellt, aufgelöst und als Institution abgeschafft werden.
Generell stellt sich uns die Frage: Warum wurde die Gefahr, die durch die extrem rechte Szene für ihre potentiellen Opfer ausging, damals von Stadt und Staatsschutz ignoriert – trotz der hohen Aktivität der organisierten Neonaziszene in Düsseldorf, in der sich auch Ralf S. bewegte.
Nötig ist damals wie heute eine aktive politische Auseinandersetzung mit der extremen Rechten. Den Betroffenen rechter Gewalt gehört unsere volle Solidarität.
Wir fordern jetzt die vollständige Aufklärung des „Wehrhahn“-Komplexes. Das werden wir auch nach Ende des Prozesse tun. Für Aufklärung ohne blinde Flecken sind die Offenlegung aller Akten, insbesondere denen der Geheimdienste, und umfassende Aussagen der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden notwendig