Hanau 2021 – Ein Jahr danach

Doing memory: Vor einem Jahr in Düsseldorf: Demo zum Anschlag in Hanau.
Wenn wir sagen: “Kein Vergessen” – woran wollen wir erinnern?

Der Anschlag von Hanau ist ein Jahr her. Auch wir als i furiosi rufen dazu auf, am 19. Februar 2021 zusammen auf die Straße zu gehen. Genau wie vor einem Jahr. Damals demonstrierten einen Tag nach dem rassistischen Mord an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov mit über 1.200 Menschen vom Düsseldorfer HBF zum Oberbilker Markt. Wir erinnern uns:

Mittwoch
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag lesen einige von uns erste Schlagzeilen auf dem Smartphone: Schüsse, es gibt Tote, vor Shisha-Bars, in Hanau. Erste Befürchtungen, es könne sich um rechten Terror handeln, machen die Runde. Sie bestätigen sich am nächsten Morgen. Aller Kritik an der Berichterstattung zu den NSU-Morden zum Trotz, in der es mehr als einmal zu einer Täter*in-Opfer-Umkehr kam, titelt die Bild-Zeitung „Terror oder Bandenkrieg?“. Der hessische Innenminister kann sich erst am Nachmittag dazu durchringen, “fremdenfeindliche Motive” in Betracht zu ziehen.

Donnerstag
An diesem Tag ist Altweiber im Rheinland. Ein Tag, an dem viele schon ab mittags betrunken sind, die Arbeit nieder legen und in der Altstadt feiern gehen. Wir diskutieren was zu tun ist, ob eine spontane Demo heute Sinn machen würde, ob überhaupt jemand käme. Wir schreiben, telefonieren, erreichen viele Bündnispartner*innen nicht. Letztendlich einigen wir uns darauf, die Demo auf den nächsten Tag zu legen und beginnen mit den Vorbereitungen. Wenige Hände, viel zu tun.

Wir erinnern uns auch an unsere Sprachlosigkeit, an das Gefühl von Ohnmacht und Lähmung. Freund*innen, die aufgrund ihres Äußeren ebenso zur Zielscheibe rassistischen Vernichtungswahns hätten werden können, berichten später, dass sie sich allein gelassen gefühlt haben. Von uns, die keine BIPOCs sind. Dass ein Anruf oder eine Nachricht, eine Geste des Mitgefühls oder der Solidarität gut getan hätte. Dass sie zum ersten Mal überlegt hätten, Deutschland zu verlassen und in das Haus der Großeltern in Tunesien zu ziehen. Dass das Trauma von Solingen zurückgekehrt sei, als sich viele türkischstämmige Familien mit Brandmeldern, Feuerlöschern und Leitern ausstatteten und dennoch keine Nacht mehr ruhig schliefen. Dass es schmerzt, von Rassist*innen zu “Anderen” gemacht zu werden, als “Fremde” gesehen zu werden. Dass es weh tut, wenn jemand voller Hass versucht, Identitäten zu zerstören. Wir verabreden uns, um eine Rede für Samstag zu schreiben. Auf dem Weg zum Treffpunkt torkeln uns Jecken entgegen. Es gibt Pizza und Tränen.

Freitag
Freitagnachmittag am Platz dann die Überraschung: Wir sind über tausend Menschen. Inklusive Prominenz. Denn plötzlich sind sie alle da. Alle vier damaligen Düsseldorfer OB-Kandidat*innen, neben dem damals amtierenden OB Thomas Geisel also Stephan Keller (CDU), Stefan Engstfeld (Grüne) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), wollen Gesicht zeigen gegen Rechts. Vor allem in die vielen Kameras. Auch Vertreter*innen von Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden sind gekommen, darunter Michael Szentei-Heise (Jüdische Gemeinde) oder Jonges-Baas Wolfgang Rolshoven. Auch viele, mit denen wir immer wieder auf der Straße sind, sind da, auch viele aus migrantischen Communities.

Der kurdische Dachverband KON-MED hat an diesem Tag das erste Wort: „Wir sind traurig und wir sind wütend. Traurig sind wir, weil unsere Gedanken nach der gestrigen Nacht bei den Angehörigen der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau sind. Unter den Toten befinden sich auch mehrere Opfer kurdischer Herkunft. […] Wütend sind wir, weil die politischen Verantwortlichen in diesem Land sich rechten Netzwerken und Rechtsterrorismus in diesem Land nicht entschieden entgegenstellen: der NSU, der Anschlag von Halle, der Mord an Walter Lübcke und nun der Terroranschlag in Hanau sind das Ergebnis einer staatlichen Politik, welche sich auf dem rechten Auge blind stellt. Die politische Rhetorik der AfD und ihre Verharmlosung durch die Medien und Politiklandschaft bereiten den Nährboden für den rechten Terror in Deutschland.“1

Darauf folgt eine spontane feelgood-Ansprache des OBs. Der heutige EX-OB Sozialdemokrat Geisel hatte kurz zuvor beim organisierenden Bündnis Düsseldorf stellt sich quer (DSSQ) angerufen und Redebedarf angemeldet. Er rührt Floskeln vom Biedermann und den Brandstiftern2, Betroffenheit über den Anschlag und die angebliche Weltoffenheit des karnevalistischen Rheinlands in eine freundliche Suppe, die niemandem weh tut. Die Stimmung kippt bei Teilen der Anwesenden, als wir mit unserer Rede3 an die von KON-MED anknüpfen und den Rassismus der Mitte kritisieren. Wir thematisieren den Deal von CDU und FDP mit der AFD um das Ministerpräsidenten-Amt in Thüringen, der damals erst wenige Tage her war. Beim Gedanken daran kommt uns heute noch die Kotze hoch. Und wir erwähnen kurz, dass auch SPD und Grüne nicht frei davon sind, migrationsfeindliche Diskurse zu bedienen. Die Genoss*innen von seered! werden später in ihrer Rede auf der Abschlusskundgebung auf die Stigmatisierung von Shisha-Bars als angebliche Orte organisierter Kriminalität thematisieren und dabei auch die Verantwortung von SPD-Politiker*innen benennen.4

Samstag
Mit einem Kleinbus fahren wir nach Hanau. Wir wollen auch vor Ort unsere Solidarität mit den Betroffenen zeigen und auch unsere Wut über die Morde. Viele von uns fühlen sich zurück erinnert an den Anfang der 1990er Jahre, an die Nazimorde in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda Solingen, Mölln, … Mit vielen tausenden Menschen sind wir in Hanau auf der Straße. Bei der Auftakt- und Abschlusskundgebung sprechen Überlebende, Angehörige und Freund*innen von Opfern rassistischer Anschläge. Beeindruckende Worte.

Montag
Im Nachhinein warf man dann witzigerweise uns vor, unter anderem in der RP, wir seien diejenigen, die den Protest für ihre Zwecke entfremdet hätten. Schließlich sei es um das Gedenken an die Ermordeten gegangen und nicht um Kritik an den Parteien oder ähnlich Lästiges. Das kann man so sehen, wenn man die Ereignisse von Hanau entpolitisieren möchte. Wenn man die Haltung und die Kritik der Betroffenen von Hoyerswerda bis Hanau am Umgang mit den Opfern von Nazigewalt und institutionellem Rassismus immer noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Wenn man immer noch nicht verstanden haben will, dass Rassismus ein strukturelles und institutionelles System ist, in dem es Verantwortliche, Privilegierte und Profitierende gibt. Dass Rassismus mehr ist als ein modernes Wort für “Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit”.5 Wenn man immer noch nicht sehen will, dass es sich nicht um verwirrte Einzeltäter handelt. Jeder der rechten Attentäter hatte einen Resonanzraum, Verbündete im Geiste, im Netz oder ganz real als Arbeitskolleg*innen. Egal ob er junge Sozialdemokrat*innen in Utøya, Muslim*innen in Christchurch oder einen missliebigen Politiker bei Kassel killte. Wie kann man “nur” gedenken wollen, wenn man doch weiß, dass bislang nicht alle Neonazi-Morde in Deutschland restlos aufgeklärt wurden? Wenn man doch weiß, dass rechtsgesinnte Polizist*innen teils fragwürdig ermittelt haben, Beamt*innen Beweismittel schredderten und V-Leute verwickelt waren?

Wer erinnert?
Denn wir erinnern uns auch: Es ist nicht den Betroffenheitsinszenierungen der großen Politik zu verdanken, dass das Gedenken an Ermordete rechter Gewalt heute sichtbarer ist als noch in den 1990er Jahren. Heute hat es einen Stellenwert in den Medien und auch in der Politik bekommen. Es auch nicht uns als mehrheitlich weißen Antifaschist*innen zu verdanken. Im Gegenteil: Auch wir in antifaschistischen Strukturen haben hauptsächlich täter*inzentriert gedacht und uns auf die Nazis gestürzt. Haben uns den Antirassismus zwar großspurig auf die Kartoffel-Fahnen geschrieben, aber verdammt lange gebraucht, um den Initiativen von Angehörigen und Überlebenden zu zuhören und Raum zu geben. Haben uns schwer getan zu reflektieren, dass natürlich auch wir Rassismen reproduzieren, unsere Ressourcen und Privilegien nicht genug teilen und außerdem dazu neigen, andere als „weiße Retter*innen“ zu bevormunden, statt ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Es ist also den Angehörigen und Überlebenden der vielen rechten Attacken zu verdanken, dass Hanau eine größere Welle schlug. Dass es so etwas gibt wie #saytheirnames und heute einen eigenen Erinnerungsraum in Hanau. Und dass sich der Staat endlich den Opfern zuwenden musste. Man sollte es eigentlich für eine Selbstverständlichkeit halten, dass ein Staatsoberhaupt zur Gedenkfeier erscheint und spricht, wenn es einen Terroranschlag mit vielen Toten gab. Doch selbstverständlich war das nicht: Als vier Neo-Nazis 1993 in Solingen ein Wohnhaus anzündeten, in dem zwei junge Frauen und drei Mädchen verbrannten, war es dem damaligen Bundeskanzler Kohl nicht mal wert gewesen, seinen Besuch der Trauerfeier persönlich abzulehnen. Er lehne “Gedenktourismus” ab, ließ er durch den Regierungssprecher verlauten. Das ist heute tatsächlich anders, wegen der harten, langen und stolzen Kämpfe der Angehörigen, der Betroffenen und Überlebenden.

Ein halbes Jahr später
Corona hat richtig reingekickt. Hanau spielt schon lange keine Rolle mehr in Politik und Medien. Wie in vielen Städten hat sich auch in Düsseldorf eine rechte Bewegung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen formiert und nutzt das Demonstrationsrecht unter anderem zur Verbreitung antisemitischer Verschwörungserzählungen. Von Beginn an sind die Neonazis der Bruderschaft Deutschland, auf deren Verbindungen zu Terrornetzwerken auch im Februar hingewiesen wurde, involviert und werden von neuen Akteur*innen wie den Corona-Rebellen und Querdenken akzeptiert. Gegenproteste gibt es, aber massiv sind sie nicht. Im Juni ermordet ein weißer US-amerikanischer Polizist einen Schwarzen, George Floyd. #blacklivematters geht viral auch in Westeuropa. Die Kämpfe von BLM-Aktivist*innen geraten nun in den Blick der weißen Dominanzgesellschaft und werden öffentlich wahrgenommen. Rassistische Polizeigewalt in den USA ist das Thema, das ganze ist auch ein Anti-Trump-Protest, Projektion und Social-Media-Hype. Auch in Düsseldorf gehen über 20.000 Menschen auf die Straßen, die Welle ebbt schnell wieder ab. Im August ruft dann die Hanauer Initiative auf zum Halbjahres-Gedenken. Im Gegensatz zu den wöchentlichen Demonstrationen der Corona-Leugner*innen wurde diese verboten, aus Infektionsschutzgründen. Stattgefunden hat dennoch ein bundesweit übertragenes im Netz Gedenken an vielen Orten.

Und heute, ein Jahr später???
Heute ist es an uns dafür zu sorgen, dass diese Kämpfe weiter geführt und gestärkt werden. Statt in ritualisiertem Gedenkgesülze zu erstarren, müssen wir weiter gehen, kritisch bleiben, den Finger in die Wunde legen, politisch handeln. Bedeutet: Eine solidarische und antifaschistische Erinnerungspolitik von unten betreiben. Dazu gehören: Kampagnen, die ein konsequentes Vorgehen gegen rechte Strukturen innerhalb der Polizei und der Ermittlungsbehörden fordern. Das Beharren auf vollständige Aufklärung von Fällen rechter Gewalt und die Verstrickungen der Behörden. Das Eintreten für eine unabhängige, professionelle und parteiische Beratung und Begleitung der Betroffenen von rechter Gewalt. Fest verankertes und kontinuierliches Engagement gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus6 und alle weiteren Formen von Diskriminierung statt kurzfristiger Feuerwehrpolitik mit Feigenblatt-Charakter. Und, und, und.

 

 

2Die Formulierung spielt an auf das gleichnamige Stück von Max Frisch, das lange Zeit zum Schulkanon gehörte. Darin holt sich der Herr Biedermann selbst zwei Brandstifter ins Haus und ist zu feige, um sie wieder hinaus zu werfen. Dieses Bild wird oft bemüht, um die Gefahr von Rechts für die parlamentarische Demokratie beschreiben.

4https://www.facebook.com/duesseldorfstelltsichquer/posts/2456477517937508

5Beide Begrifflichkeiten stehen in der Kritik, Rassismus zu verschleiern. So sind z.B. nicht alle „Ausländer*innen“ wie z.B. Tourist*innen sind Rassismus gleichermaßen ausgesetzt, „Fremdenfeindlichkeit“ enthält die Konstruktion des „Fremdseins“ schon in sich.

6 Feindschaft gegenüber Sinti*zze und Rom*nja