18.9. | 18:00 | Hauptbahnhof Düsseldorf
Grenzen überwinden!?
Wir sind wütender denn je. Der Zynismus der Bundesregierung schreit nach fetten Ohrfeigen: Unter dem Motto “Grenzen überwinden”(!) wollen Merkel, Gauck und Co. die “Vielfalt Europas” am Tag der deutschen Einheit feiern. Am Montag verkündete Thomas de Maizière (CDU) die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich. Laut Medienberichten war dieser Entscheidung ein Telefonat zwischen Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer, Angela Merkel und SPD-Chef Sigmar Gabriel vorausgegangen.
Bayern will gerade nicht noch mehr Flüchtlinge – schließlich ist ja auch Oktoberfest – Merkel springt beflissen bei, und die Sozialdemokratie stimmt der Aussetzung geltenden EU-Rechts, also des Schengener Abkommens aufgrund der “Gefährdung der inneren Sicherheit” gerne zu. Massenhaft wird nun die Bundespolizei nach Bayern beordert, die jeden Wagen auf Geflüchtete kontrollieren soll.
Auch die Grenze Österreich-Ungarn wurde nun endgültig geschlossen. Dabei ist bekannt, dass Ungarn, derzeit nationalistisch-rechts regiert, keinen Wert darauf legt als sicheres Herkunftsland eingestuft zu werden. Geflüchtete campieren derzeit unter freiem Himmel in der Pampa – zur Abschreckung für alle anderen, die es wagen, einen Fuß ins “sichere Europa” zu setzen. Diese Maßnahmen werden Menschen, die auf der Flucht sind, nicht aufhalten. Wo Menschen mit Zielen sind, finden sich Wege. Aber die Maßnahmen der deutschen Bundesregierung machen diese Wege noch lebensgefährlicher als bisher.
Deutschland – “Mimimi”
Das reichste Land Europas, Fussballweltmeister, Exportweltmeister, Zahlmeister, alles am Besten-Könner, das sich gerade noch für seine Willkommenskultur abgefeiert hat, schottet sich mit Sondermaßnahmen, Polizei und Stacheldraht gegen die Ärmsten der Armen ab. Der “Flüchtlingszustrom” sei gerade nicht zu händeln, unkontrolliert, man sei an Grenzen gestoßen – bla, bli, blub.
Es fehlt weder an Ressourcen, finanziellen Mitteln oder gar Organisationstalent. Sogar die massenhafte Bereitschaft von Bürger*innen ehrenamtlich zu helfen, wo es geht, ist so groß wie noch nie. Was fehlt, ist der politische Wille.
Expert*innen und Geflüchteten-Initiativen fordern schon seit Jahren mehr Mittel, warnten, redeten sich den Mund fusselig angesichts gekenterter Boote auf dem Mittelmeer und Leichen an allen Außengrenzen Europas – und stießen bestenfalls auf sozialchauvinistische Ignoranz, schlimmstenfalls auf rassistische Ressentiments und nationalistischen Abschottungswahn. Antirassistische Gruuppen kritisieren seit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 die rassistische Sondergesetzgebung.
Jeder Mensch mit einem sogenannten, realen oder unterstellten, “Migrationshintergrund” weiß um den alltäglichen Rassismus und die Diskriminierung auf deutschen Straßen, in Schulen, Betrieben und Behörden sowie um seine schlechteren Chancen. Es war nie cool in Deutschland für Migrant*innen und Geflüchtete, und gerade wird es schlimmer! Jetzt, wo das Elend auf der eigenen Fußmatte steht, fallen CDU & SPD nichts besseres ein als irgendwann ein schwaches “wir schaffen das” zu murmeln, einige schäbige Kirmeszelte zu verteilen und ein paar Wochen später genervt die Tür zuzuschlagen und eine Rolle Stacheldraht davor zu binden. Erbärmlich.
Armut und Ausbeutung
Auch wir mögen wütenden Zynismus: Des Deutschen sein Lieblingsflüchtling ist aktuell ein syrischer Arzt oder ein Umweltingenieur, der fließend englisch spricht, auf deutsch schon “Danke Merkel” sagen kann und ein Kind ohne Kuscheltier auf dem Arm trägt. Dann soll er sich möglichst schnell integrieren, nicht weiter auffallen und dabei helfen, das marode Rentensystem zu sanieren. Ganz schlecht jedoch sind gerade Geflüchtete aus Albanien, Mazedonien, Serbien, Bosnien – dem neu erfundenen “Westbalkan”. Denen geht es nämlich noch nicht schlecht genug, selbst wenn sie Roma oder Sinti sind. Sogenannte “Wirtschaftsflüchtlinge“, die den anderen die Isomatte wegnehmen.
Auch das macht uns wütend: Was für viele Deutsche, ganz oben auf der Hühnerleiter der europäischen “Wertegemeinschaft”, selbstverständlich ist, sollen andere nicht dürfen:
Sich in England als Arzt besser bezahlen lassen, Karriere toppen mit Auslandssemester, Chancen steigern mit Sprachurlaub oder einfach nur Geld ausgeben für Abenteuer, Entspannung oder Eindrücke, auf Kreuzfahrtschiffen, Weltreisen oder an den gleichen Stränden, an denen tote Menschen angespült werden.
Alle anderen sollen weiterhin in ihren Armutsländern sitzen bleiben, egal ob deren Ressourcen durch kapitalistische Produktion ausgebeutet werden oder der durch Industrienationen verursachte Klimawandel die Lebensgrundlage zerstört. Hauptsache sie produzieren für deutsche Unternehmen Wohlstandsartikel und Luxusmüll zu beschissenen Bedingungen, reichen im Urlaub dezent den Cocktail an und leiden ansonsten und halten den Mund. Es ist das alte Lied des Kapitalismus, der mit allen Mitteln kämpft, wenn er in die Krise gerät. Einigen wenigen geht es toppi, und alle andern leiden und sterben dafür, das es so bleibt.
Europa in der Krise
Die Idee eines friedlichen, vereinten, weltoffenen Europas dürfte nun endgültig für jede*n als Komplettverarsche zu erkennen sein. Die Festung Europa, seit mehr als 20 Jahren ein Schlagwort der antirassistischen Bewegung, wird gerade so manifest wie nie. Das europäische Konstrukt ist nichts anderes als der Versuch, wirtschaftliche und militärische Hegemonie zu etablieren und zu sichern. Während die Nachrichten derzeit von der Flüchtlingsthematik dominiert werden, gerät der Umgang mit Griechenland in den Hintergrund. Unter dem Spardiktat der Troika wurde ein souveräner Staat Stück für Stück demontiert: Massenhafte Armut, Arbeitslosigkeit, eklatante Mängel in der Gesundheitsversorgung sind die Folge. Im europäischen Süden sieht die Lage nicht viel besser aus: In Spanien flogen viele Menschen aus ihren Wohnungen, ein Viertel der jüngeren Leute findet seit Jahre keinen Job und lebt auf Pump. Die extreme Armut und die sozialen Konflikte im sogenannten “Westbalkan” sind ebenfalls bekannt. Wen wundert es, dass alle nach Deutschland wollen?
Es ist eins der reichsten Länder der Welt, also ist hier auch das Meiste abzugeben.
Die Menschen, die zu Hause alles aufgeben, ihr Leben aufs Spiel setzen für eine ungewisse und gefährliche Reise Richtung Europa, flüchten vor Zuständen, an denen die deutsche Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft einen wichtigen Anteil haben und davon profitieren.
Krieg und Konflikte
Die BRD ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Mit deutschen Waffen wird nahezu überall auf der Welt geschossen. Dabei entscheiden wirtschaftspolitische und geostrategische Interessen. So versorgte die Bundeswehr 2014 die kurdischen Kämpfer*innen der Peschmerga im Nordirak im Kampf gegen den IS mit einem Waffenpaket. Aktuell kämpft das türkische Militär mit deutschen Waffen gegen die kurdische PKK. No comment.
Deutschland liefert nicht nur gerne Waffen in alle möglichen Krisenregionen der Welt, sondern mischt auch gerne selbst mit, wenn es heißt: Deutschland ist wieder wer. Galt bis 1999 noch die Lehre aus den Verbrechen des zweiten Weltkrieges, dass von deutscher Seite nie wieder Krieg ausgehen sollte, beteiligte sich Deutschland danach am Nato-Einsatz im Kosovo. Bis heute sind deutsche Soldaten in der Region stationiert – der gleichen “sicheren” Region, aus der sogenannte “Wirtschaftsflüchtlinge” kommen. Aber auch in Afghanistan, dem wohl verkacktesten modernen Krieg, Irak, Iran und vielen anderen Ländern mischt die Bundeswehr mit und ist ursächlich dafür, dass Menschen fliehen.
Was bleibt außer der grenzenlosen Wut? Grenzen überwinden – aber richtig!
Es macht uns Mut, dass gerade viele “Refugees welcome” sagen. Wir fühlen uns oft hilflos, ohnmächtig, ruhelos. Wir sehen die Nachrichten, wir sehen die Menschen in unseren Städten ankommen, wir sehen auch das stumpfe rechte Dreckspack von Dügida bis Heidenau, die nichts anderes als einen auf die Fresse verdient haben. Aber wir sehen auch, das viele Untätigkeit nicht aushalten. Das viele gern etwas abgeben, statt auf dem Sofa abzuhängen.
In Unterkünfte fahren, Essen ausgeben, mit den Leuten sprechen, mit den Kindern spielen. Auch wir waren am Bahnhof, und ja, auch da hat etwas von Zynismus. Man winkt denjenigen zu, die es bis hierhin geschafft haben, im Wissen, dass die eigene Regierung schon den nächsten miesen Gesetzesentwurf ausheckt. Mag sein, dass es gerade hip ist zu helfen, dass es einigen mehr um sich selbst als und ihr gutes Gefühl geht. Kann sein, finden wir aber einigermaßen egal.
Denn alles, was die Mutigen, die bis hier hin gekommen sind oder sie beim Herkommen unterstützt ist gut. Wir feiern den Autokonvoi und alle, die Geflüchtete über die Grenze bringen. Selbst handeln zu können, ist erstmal gut. Fahrkarten organisieren zur Mobilität, Handykarten besorgen zur Kommunikation. Kontakte & Sprache gegen Isolation, Rechtsberatung gegen Falschinformation. In Ungarn wurde der March of Hope Richtung Österreich von den Geflüchteten selbst organisiert, unterstützt von allen, die Unterstützung leisten können. In Heidenau protestieren Geflüchtete gegen die kalten Nächte im Baumarkt. In Berlin besetzten Geflüchtete gemeinsam mit Genoss*innen ein leer stehendes Gebäude.
Es ist unsere Aufgabe, den Menschen im Alltag zu helfen, das Ankommen zu erleichtern, und ja, wenn der Staat sich sträubt und weigert, dumm stellt, dann müssen alle eben mit Herz und Hirn ran. Auf den Staat zu hoffen, hat noch nie viel Sinn gemacht. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass mit Selbstorganisation und Engagement und Solidarität viel zu erreichen ist, das jede*r intervenieren und handeln kann. Wir sind der Meinung, dass dies auch auf der politischer Ebene möglich & nötig ist. Wir müssen uns gemeinsam mit den Angekommenen für ein dauerhaftes Bleiberecht einsetzen, für die Möglichkeit zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation, für die Wiederöffnung der Grenzen, für sichere Einreisemöglichkeiten und grundsätzlich für die Abschaffung aller nationalstaatlicher Grenzen.
Und wir müssen weiterhin gegen Neonazis und Rassisten agieren. Die Dügida-Combo mag ein lächerlicher Haufen sein, und auch wir haben keine Lust, unsere “Aufmerksamkeit” an das Pack zu verschenken. Doch den Handlungsspielraum von Neonazis und Rassist*innen einzuschränken und öffentlichen Protest zu organisieren bedeutet für uns auch ein Signal zu setzen für alle, die potentiell Opfer rechter Gewalt sein können, dass sie nicht allein gelassen werden. Und es ist ein deutliches Signal gegenüber allen, die erwägen, nach ganz unten zu treten. Ihnen zeigen wir: Rassist*in sein heißt Probleme kriegen!