Der Text erschien zuerst in der TERZ 06/2020
Andere Perspektiven aus der Krise
Menschen mit Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft, werden aber tatsächlich nur selten als solche wahrgenommen. Vor einigen Jahren war das Thema „Inklusion“ in aller Munde. Die Behindertenrechte-Konvention der Vereinten Nationen sollte vor allem im Bildungssektor konsequent umgesetzt werden. In den Schulen sollten fortan Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen; reine Förderschulen, in denen Menschen mit Behinderung gezwungenermaßen unter sich bleiben, sollten reduziert werden. Da das an vielen Stellen übers Knie gebrochen und häufig von unausgereiften Erstversuchen überforderter Schulen und Lehrer*innen geprägt war, wurde die Diskussion schnell zum Aufreger. Aber worüber wurde sich denn da genau aufgeregt und wer genau tat das?
Bei genauerem Hinhören offenbarte sich schnell, was wirklich hinter vielen der Aufschreie steckte: Hilfe, die Kinder mit Behinderung versauen meinem „normalen“ Kind die Bildungschancen! Trotz permanentem Beteuern, wie sehr man doch im Allgemeinen für Inklusion sei, ging diese Fürsprache nur selten über ein gönnerhaftes „Natürlich dürfen diese armen Andersartigen dabei sein (solange sie nicht stören und sich für den Rest nichts ändert)“ hinaus. Von dem Gewinn für Kinder mit und ohne Behinderung oder gar für die gesamte Gesellschaft war hier meist weniger die Rede.
Die Konvention trat 2009 in Kraft. Inzwischen ist die erste Euphorie abgeflacht, die Inklusion dümpelt vor sich hin und wird stellenweise zurückgefahren. Das erhoffte tiefgreifende Umdenken lässt nach wie vor auf sich warten.
Was hat das Ganze mit Corona zu tun? Es soll als Beispiel dafür dienen, welche Denkweise der Begegnung mit Menschen mit Behinderung oft noch immer zu Grunde liegt. Durch meine Arbeit als Heilerziehungspflegerin wurde mir an vielen Stellen schmerzlich bewusst, was ich mir vorher nicht vorstellen konnte: Noch immer sehen viele diese Menschen als minderwertig, unproduktiv, wenn nicht sogar lebensunwert an. Das offenbarte sich schon früher oft in Reaktionen auf meine Tätigkeit oder in Situationen, in denen ich mit Klient*innen in der Öffentlichkeit unterwegs war.
Jetzt in der Krise zeigt sich aber noch einmal deutlicher, mit welcher menschenverachtenden Geringschätzung die kapitalistische Verwertungslogik auf diese Menschen blickt.
Viele Menschen mit Behinderung sind in besonderer Weise von der Krise betroffen. Sie können sich nicht physisch distanzieren, weil sie sich in einem Wohnheim eine Küche mit zehn anderen Personen teilen oder zuhause mit persönlicher Assistenz leben. In beiden Fällen haben sie mindestens im täglichen Wechsel engen körperlichen Kontakt mit verschiedenen Menschen. Wenn eine Person dann noch zur Risikogruppe gehört, wächst die legitime Angst vor einer Ansteckung natürlich stetig, und ein Gefühl der Hilflosigkeit breitet sich aus. Eine Hilflosigkeit, die traurigerweise viele kennen. Ein wirklich selbstbestimmtes Leben zu führen, wenn man täglich auf Pflege angewiesen ist, stellt sich oft als sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich heraus. Darüber habe ich auch mit meiner Chefin gesprochen, die ich im Rahmen des Arbeitgeber*innenmodells zuhause pflege und unterstütze: „Durch die Lungenprobleme gehöre ich zur Risikogruppe, ich hätte mich gerne frühzeitig isoliert, das ging nicht aufgrund der Assistenz. Menschen mit Assistenz haben nicht die Wahl.“
Wird diese Situation von der Gesellschaft thematisiert? Wenig bis gar nicht. In der Diskussion um Pflegenotstand werden Heilerziehungspfleger*innen nicht mit einem Wort erwähnt, es gibt keine tragfähige Schutzkonzepte, weder für Wohnheime noch für persönliche Assistenzen – obwohl nicht wenige Menschen mit Behinderung zur Risikogruppe gehören. Allein in Düsseldorf gibt es mehr als zehn Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung; über das persönliche Budget erhalten weitere Personen Unterstützung bei sich zuhause. Auch sind viele Menschen mit einer schwereren geistigen Behinderung von den neuen Umständen überfordert. Es wird wohl kaum möglich sein, ihnen wirklich verständlich zu machen, warum sie nun Abstand zu geliebten Menschen halten oder dauerhaft einen Mundschutz tragen sollen. Die Wohneinrichtungen sind ihr Zuhause und die Mitarbeiter*innen haben nur wenig Möglichkeiten, sich und die Bewohner*innen zu schützen. Trotz dieser Umstände stellt es für die allermeisten Mitarbeiter*innen dort auch keine Alternative dar, die Menschen allein zu lassen. Hier greift die gleiche emotionale Erpressung, die auch bei Lohnverhandlungen oder bei der Diskussion um Personalschlüssel zuverlässig gegen den legitimen Widerspruch der Beschäftigten eingesetzt wird. Es muss immer wieder aufs Neue um Sichtbarkeit und Anerkennung des Berufes gekämpft werden. So forderte zum Beispiel Ulla Schmidt, Vorsitzende der Lebenshilfe e. V., unter anderem von Jens Spahn, die Corona-Prämie auch für Mitarbeiter*innen in Pflegeeinrichtungen der Behindertenhilfe vorzusehen. Regelmäßige Corona-Tests, wie sie für den anscheinend extrem system-relevanten Fußball angedacht sind, werden sich die Beschäftigten wohl ebenfalls noch lange wünschen. Dabei wäre das eine Möglichkeit, das Leben der Beschäftigten und Bewohner*innen ein bisschen sicherer zu machen.
Schön, wenn Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen dann jetzt in einer solch herausfordernden Situation wahrgenommen und unterstützt werden. Allerdings nicht von der Bundesregierung, sondern von Freund*innen und Nachbar*innen, die zum Beispiel dem Aufruf der Stadt Düsseldorf für die Lebenshilfe Düsseldorf e.V. folgten und durch das Spenden von selbstgenähten Masken einen Mindestschutz in den Wohneinrichtungen ermöglichten.
Doch was, wenn es zu einem Ausbruch in einer der Einrichtungen käme? Was, wenn Beschäftigte in der privaten Pflege erkranken? Weder gibt es in den Wohnheimen ausreichend Möglichkeit zur Isolation, noch können Assistenznehmer*innen auf ihr gesamtes Team verzichten. Lauter werdende Stimmen nach einer Isolation der Risikogruppen im Gegenzug zu der Beendigung der allgemeinen Maßnahmen klingen hier wie blanker Hohn.
Ähnlich große Sorge bereitet Betroffenen die Diskussion um Beatmungsplätze. Im Falle einer Überlastung der Kapazitäten empfehlen einige medizinische Fachgesellschaften, nur diejenigen Patient*innen zu behandeln, bei denen gute Erfolgsaussichten bestehen. Zu den Kriterien für eine schlechte Erfolgsaussicht zählen die Fachgesellschaften auch „allgemeiner Gesundheitsstatus, Gebrechlichkeit“. Um den Grad der Gebrechlichkeit zu messen, gibt es eine Gebrechlichkeitsskala, die Clinical Frailty Scale. Darauf finden sich neun Stufen, von 1 „sehr fit“, bis 9 „terminal erkrankt“. Ein Mensch, der auf einen Rollstuhl und tägliche Assistenz angewiesen ist, fände sich beispielsweise auf Stufe 7 wieder und könnte nach diesen Kriterien begründet Angst haben, keinen Beatmungsplatz zu bekommen, sollten die Ressourcen knapp werden. Die Behindertenbewegung kritisierte die Vorschläge dann auch als diskriminierend, einige sprechen sogar von einer Unterscheidung zwischen „lebenswert“ und „lebensunwert“.
Sozialdarwinistische Aussagen in Bezug auf Risikogruppen schüren zusätzlich die Angst, aussortiert zu werden. Denn allgemein stehen Menschen mit Behinderung in der kapitalistischen Verwertungslogik noch immer weit unten. Als Heilerziehungspflegerin merke ich immer wieder, wie meine Arbeit gegenüber der Arbeit in anderen Pflegeberufen abgewertet wird, da ich nur „das Leben von Menschen ermögliche, die nichts zur Gesellschaft beitragen“ oder gar „in der freien Natur nie überlebt hätten“. Auch meine Chefin sagt deutlich: „Die trauen sich jetzt zu sagen, was sie immer schon gedacht haben. Als Mensch mit Behinderung kennst du das von der Kindheit an. Gerade wenn man mit Leuten alleine ist, lassen dich Menschen das schon zum Teil spüren. Demonstrativ wird nicht geholfen.“
Also was müsste passieren, damit der gesellschaftliche Blick auf Menschen mit Behinderung sich ändert? „Ich würde mir vor allem wünschen, dass Menschen auf uns aufmerksam werden und sich Gedanken machen“, sagt meine Chefin. Denn noch immer sind ihre Sozialkontakte sehr eingeschränkt, gerade Rollifahrer*innen bleiben viel unter sich. Doch gerade Menschen mit Beeinträchtigungen können sehr viel zu unserem gesellschaftlichen Miteinander beitragen: „Als ich noch Fußgängerin war, hatte ich schon eine Sympathie zu Rolli-Fahrern. Das sind oft starke Charaktere, die trotz Schwierigkeiten ihren Weg machen“, erinnert sie sich. „Sie können in jede Gruppe positiv einwirken. Diese positiven Eigenschaften könnte die Gesellschaft gut gebrauchen. Viele von ihnen sehen im sozialen Bereich Lösungen. Sie können auch gesunden Menschen Kraft geben, indem sie zeigen, dass man trotz Einschränkungen und Widrigkeiten Lebensfreude haben kann und sich das Leben lohnt.“
Vielleicht ist diese Krise ja eine Chance für uns, unseren Blick auf andere zu überdenken. Uns zu fragen, was Menschen wirklich wertvoll macht, und uns von Verwertungslogiken zu lösen, die jede*n von uns immer wieder verunsichern und abwerten.